Schaut nicht weg!
Appell
Dass viele Frauen und Mädchen in Deutschlands Bordellen und auf dem Straßenstrich sexuell ausgebeutet werden, wissen nur die wenigsten in unserer Gesellschaft. Es wird vorgetäuscht, dass alles freiwillig geschieht. Dass dem nicht so ist, weiß Erika Herdt, und schreibt sich die Traurigkeit über den Alptraum dieser Frauen und das Bedauern über die gesellschaftliche Ignoranz von der Seele.
Es ist ungewöhnlich viel los für einen Montagabend, als wir die engen, langen Flure des Bordells betreten. Gedämpftes Licht, dunkle Ecken und viele verwinkelte Etagen, die an ein Labyrinth erinnern, finden wir in diesem großen Gebäude vor. Zimmer an Zimmer, Tür an Tür. Es sind viele Türen, die offen stehen. Bei manchen stehen die Mädchen, beziehungsweise die Frauen an der Tür, oder sie sitzen auf ihren hohen Hockern davor und warten auf die Kundschaft. In manchen Zimmern hängt ein Fernseher, auf dem ununterbrochen Pornos laufen. Verschiedenes Sexspielzeug und Utensilien stehen auf dem Tisch neben dem großen Bett. Lackbekleidung hängt an der Wand. Ein Freier nach dem anderen geht durch diese Flure und schaut sich „die Ware“ an, die angeboten wird, bevor er etwas später eine Wahl trifft. Dann schließt sich die Tür.
40 Millionen Opfer
Das älteste Gewerbe, seit es den Menschen gibt, heißt es. Dieses Gewerbe gehört mittlerweile zwischen dem Waffen- und Drogenhandel zu den größten Handelsbranchen der Welt. Moderne Sklaverei heißt es heute, laut der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gibt es 40 Millionen Opfer weltweit. 80 Prozent aller Opfer von Menschenhandel sind Frauen und Mädchen, 71 Prozent davon landen in der Zwangsprostitution. Von diesen 40 Millionen ist jede vierte Frau minderjährig.
Ein mulmiges Gefühl breitet sich aus, wenn wir diese Räume betreten, selbst nach langen Jahren der Streetwork Arbeit. Es sind die Augen dieser Frauen, die mir sofort auffallen. Ja, es ist ihr Blick, die Art, wie sie schauen. Bei manchen ist der Blick wach und abwartend, bei anderen melancholisch und apathisch, und bei einigen abwesend, total ins Leere schauend. So, als scheinen sie in ihren Gedanken ganz woanders zu sein, als da, wo ihr Körper gerade ist. Denn dieser muss jetzt funktionieren. Für Geld. Denn das ist es, was in diesen Räumen zählt und wichtig ist, Geld. Sie muss mit ihrem Körper Geld verdienen, ob sie will oder nicht! Dann heißt es wieder, eine Maske aufzuziehen und zu lächeln, zu funktionieren.
40 Millionen Geschichten
Jede von ihnen hat ihre eigene Geschichte, und jede dieser Geschichten geht unter die Haut. Und wenn das mit der Maske nicht klappt, betäuben sie sich mit Alkohol, oder werden von ihrem Zuhälter mit Drogen gefügig gemacht. Später dann brauchen sie auch dafür Geld. Denn 20 bis 30 Freier am Tag zu bedienen, das geht ohne Betäubung nicht. Viele dieser Frauen sind tablettenabhängig, ohne Psychopharmaka ist diese Arbeit nicht möglich, ein Großteil leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. In unserer Zeit, ja 2022 existieren Zwangsprostitution und Menschenhandel mehr denn je! Noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es so viele Sexsklavinnen wie heute, noch nicht einmal zu Zeiten der Sklaverei!
Deutschland wird im Ausland als das Bordell Europas bezeichnet. Durch die Legalisierung des Prostitutionsgesetzes 2002 wurden in Deutschland alle Türen und Tore für Menschenhandel geöffnet, Zuhältern und Bordellbetreibern werden keine Grenzen gesetzt. Die Frauen sind diesen schutzlos ausgeliefert, sie sind Gefangene. Viele von ihnen kommen aus dem Ausland und können kein Deutsch. Osteuropäische Mädchen, die vor allem auf dem Straßenstrich „anschaffen“, ernähren nicht nur ihre Kinder, sondern die gesamte Großfamilie in ihren Heimatländern. Von Freiwilligkeit kann hier keine Rede sein.
„Geht hin, schaut nicht weg von dem Elend dieser Frauen, reicht ihnen die Hand, denn sie haben keine Kraft mehr.“
Wertschätzung und Liebe
„Leben in Freiheit“, so heißt unser Verein, der aus rund 15 Streetworkern, Frauen und Männern aus unterschiedlichen kirchlichen Gemeinden, besteht. Unsere aufsuchende Arbeit machen wir im Raum Köln-Bonn, wo wir den Frauen, die sich prostituieren, begegnen und eine Beziehung aufbauen. Egal, ob auf dem Straßenstrich oder im Bordell. Bei unseren Straßeneinsätzen haben wir Kaffee, Tee, Snacks, Süßigkeiten und oft ein kleines Geschenk dabei. Manchmal auch eine Bibel in der Sprache der Frauen. Wertschätzung und Liebe ist das, was wir ihnen bringen. Wir bieten bei unseren Besuchen eine Umarmung, Gebet und sofortige Ausstiegshilfe an. Letztere setzen wir mithilfe von Frauenhäusern um, die in ganz Deutschland verteilt einen Schutzraum für Aussteigerinnen bieten. Die Ausstiegsquote ist sehr gering. Doch im Unterschied zu säkularen Hilfsvereinen haben wir einen riesengroßen Trumpf in der Hand: Durch Jesus Christus können „unsere“ Frauen zu jeder Zeit innere Freiheit finden. Auch wenn sie noch viele Jahre im Milieu festsitzen sollten, reicht ein kleines Gebet im stillen Kämmerlein, um für die Ewigkeit von ihrem Schöpfer befreit und mit echter Liebe beschenkt zu werden.
Diese echte Liebe versuchen wir ihnen jetzt schon zukommen zu lassen, auch durch unsere „Real Loverboys“. Während einfache Loverboys junge Frauen verführen, sie von ihren Familien isolieren und in die Prostitution verkaufen, haben unsere „Boys“ das Gegenteil im Sinn: Sie tarnen sich als Freier, um eine Frau vom Strich zu sich ins Auto zu holen. Doch statt dann ihren Körper zu fordern, erzählen sie ihnen von Jesus, schenken ihnen eine Bibel und bieten ein Gebet und einen Ausstieg an. Natürlich wird die Frau trotzdem bezahlt, denn der Preis wurde ja vorher vereinbart. Diese Geste macht die Frauen immer wieder misstrauisch, berührt sie aber auch zutiefst. Eine verriet uns später, dass sie in zwölf Jahren Straßenarbeit zum aller ersten Mal bei ihrem Namen genannt wurde.
Reicht ihnen die Hand
Die Arbeit im Rotlichtmilieu ist immer wieder eine Herausforderung, doch es ist unser Herzensanliegen, diesen Frauen mit Freundlichkeit und Wertschätzung zu begegnen und ihnen von der wahren Liebe Gottes zu erzählen, die nicht käuflich ist. Ein ehemaliger Zuhälter, der Christ wurde, sagte uns einmal: „Geht hin, schaut nicht weg von dem Elend dieser Frauen, reicht ihnen die Hand, denn sie haben keine Kraft mehr.“ Es ist unser Gebet, dass Gott ihre Wunden heilt und sie wiederherstellt, damit sie ein normales und glückliches Leben führen können und ihr Blick voller Hoffnung und Freude ist. Wir wollen denen eine Stimme geben, die keine mehr haben und uns für diejenigen einsetzen, die kraftlos sind. Ein Leben in Freiheit und Liebe, das wünschen wir ihnen.
Der Verein Leben in Freiheit e.V. bietet Vorträge zum Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution und Workshops zur „Die Loverboy-Methode“ an, um Kinder, Eltern und Lehrer zu informieren und aufzuklären.
Kontakt: lebeninfreiheit@gmx.de
Erika Herdt ist die Vorsitzende des Vereins Leben in Freiheit e. V., Referentin auf Frauenveranstaltungen und Multiplikatorin von „Liebe ohne Zwang“. Sie ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Lohmar.
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