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Ist der Glaube tot?

Essay

Bisweilen kann man den Eindruck haben, dass es um Deutschlands Glauben schlecht bestellt ist. Auf der einen Seite hört man von immer mehr Austritten aus den beiden großen Kirchen, auf der anderen entstehen ständig neue, kleine Glaubensgemeinschaften. Was ist da los? Streit und Trennung? Individualismus, Egoismus? Oder schlicht bunte, schöne Pluralität? Maike Sachs kennt sich aus und ordnet unser Denken.

Nach wie vor ist die Zahl derer, die sich zu einer christlichen Kirche rechnen, hoch. Sie liegt deutschlandweit bei 60%. Die Mitglieder muslimischer Glaubensgemeinschaften wachsen langsam aber sicher über 6% hinaus. Daneben gaben 34% der Bevölkerung beim letzten Zensus an, konfessionslos zu sein. Was aber nicht heißt, dass Glaubensüberzeugungen etwas Einheitliches sind, nicht einmal die Überzeugung, nichts zu glauben. Viel zu bunt ist der Markt an spirituellen Angeboten, viel zu frei das Lebensgefühl, als dass man sich auf irgendwelche allgemeinen Bekenntnisse verpflichten lassen wollte. 

Die Sache mit der Verschiedenheit

Nur zu sichtbar wird dies an den christlichen Kirchen. Zwar beanspruchen die römisch-katholische Kirche und die Mitgliedskirchen der EKD – schon hier ein Plural! – die überwiegende Mehrheit der Christen für sich. Aber daneben gibt es nicht nur verschiedene sogenannte Freikirchen, auch innerhalb der großen Kirchen bietet sich von Ort zu Ort ein differenziertes Gemeindebild, mal traditionell, mal poppig, mal gut besucht, mal gähnend leer, mal fokussiert auf Musik, mal mehr diakonisch oder auch politisch. Was aber gilt, wenn jeder etwas anderes für wichtig hält? Wie soll ein Glaube Orientierung geben, der so unterschiedliche Ausprägungen und Überzeugungen hervorbringt?

Ganz sicher ist die Verschiedenheit ein Kennzeichen unserer Zeit. Eine gelungene Erziehung stattet uns mit Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit aus, lehrt uns kritisch zu hinterfragen und nur das zu vertreten, was wir mit unseren Werten und unserem Gewissen vereinbaren können. „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ Dieser Satz, mit dem Luther auf dem Reichstag in Worms seinem Kaiser geantwortet hat, als er seine Schriften und Überzeugungen widerrufen sollte, hat es bis tief hinein in die Seele unserer Kultur geschafft, nicht nur in Fragen unseres Glaubens. Entsprechend ist die Kirchengeschichte der vergangenen 500 Jahre erst allmählich, und dann mit wachsender Geschwindigkeit, zur einer Geschichte der Trennungen und Abspaltungen geworden. Aussagen wie: „Ich gehe jetzt in die Gemeinde in XY. Was die da machen, das passt zu mir!“ sind erst heute möglich, aber dafür ziemlich verbreitet.  

Die Gemeinde Jesu setzt sich aus Menschen zusammen

Aber tut uns diese Aufsplitterung gut? Uns und der ganzen Christenheit, wenn wir uns denn zu ihr rechnen? Tatsächlich stellt sich das Phänomen einer zersplitterten Christenheit im Vergleich zu manchem, was das Neue Testament über die Gemeinde der Jesus-Leute sagt, ziemlich quer. Paulus zum Beispiel beschreibt das Miteinander von Christen mit dem Bild des menschlichen Körpers. Dass es schon Schmerzen macht, wenn man dem nur einen Zahn zieht, kann sich mancher lebhaft vorstellen. Es ist ein Grundzug der Lehre von Jesus, dass wir einander dienen. „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Das ist seine Grundfrage, wann immer er Menschen begegnet. Sollte mir aber wichtig sein, was der andere braucht, dann bedeutet das, dass ich meinen Geschmack und meine Interessen zurückstelle und dort aushalte, wo es mir nicht immer oder nicht auf Anhieb gefällt. Bedeutet das dann aber, dass die Christenheit seit der Reformation auf dem Irrweg ist? 

Zunächst einmal ging und geht die Zersplitterung in viele Gruppen und Grüppchen kaum einmal ohne Schmerzen vonstatten. Der Trennung - sowohl von großen Kirchen als auch von kleinen Gemeinden und Gemeinschaften - geht oft Streit um Inhalte, Überzeugungen und Formen voraus. Auch Macht spielt gelegentlich eine Rolle. Wo in früheren Zeiten politische Allianzen dafür verantwortlich waren, sind es heute eher charakterstarke Persönlichkeiten, die ihren Einfluss ungern mit anderen teilen. Die Gemeinde Jesu Christi setzt sich eben aus Menschen zusammen, die ihre Fehler nicht einfach ablegen.

„Viel zu bunt ist der Markt an spirituellen Angeboten, viel zu frei das Lebensgefühl, als dass man sich auf irgendwelche allgemeinen Bekenntnisse verpflichten lassen wollte.“

Und gleichzeitig entspricht die Vielfalt des Gemeindelebens der Vielfalt, in der Gott seine Menschen geschaffen hat, auch ohne Zank und Streit. Deshalb ist es durchaus legitim, dass sich die Formen, in denen der Glaube an Jesus Christus gelebt wird, voneinander unterscheiden. Im Gegenteil, da wäre noch mehr drin. Auf die Diversität unserer Gesellschaft bezogen bieten Christen und christliche Gemeinschaften noch immer ein ziemlich einheitliches Bild. Die Soziologie würde sagen: die Kirchen, ob frei- oder landeskirchlich, bedienen bestimmte Milieus. Genauer gesagt: Sie bedienen ein paar wenige Milieus. Grundsätzlich ist es also eine gute Botschaft: Jeder darf so Gottesdienst feiern und Gemeinschaft pflegen, wie es ihm entspricht. Andererseits ist es eine Herausforderung, noch mehr Vielfalt zu ermöglichen, damit noch viele bisher Unerreichte sich in einer Gemeinde wohlfühlen können.

Ein Zweites spricht für unterschiedliche Gemeinden. Kleine Gemeinden sind überschaubarer. Gemeinschaft, Verbindlichkeit und Geborgenheit bietet eine Gemeinde am ehesten, wenn es nicht zu viele sind, die man kennen muss. Deshalb teilen sich Mitglieder großer Kirchen auch bald wieder in Kleingruppen auf. Und Untersuchungen zeigen es: Wer wachsen will, muss das tun. Zellteilung sozusagen, wie in der Natur.

Gott produziert nicht für die Stange

Aber wo ist dann die Einheit? Was für ein Bild liefert die Christenheit nach außen, wenn sie im Kern so uneins ist? Die grundsätzliche Frage ist, unter welchem Begriff das Nebeneinander von unterschiedlichen Ausprägungen des christlichen Glaubens steht. Ist es Zerrissenheit, dann ist es wirklich eine schmerzhafte Geschichte und hat nichts mit einem Gottessohn zu tun, der gekommen ist, um Frieden zu stiften. Ist es Vielfalt, dann erzählt es etwas von Gottes Fantasie und Schöpferkraft, die bis heute nichts für die Stange produziert, sondern Originale liebt. So wie es die Leiterin eines katholischen Klosters formuliert hat: Gottes Geist sucht sich immer neue Formen. Das ist ein Zeichen seiner Lebendigkeit. Die Form vergeht. Der Geist bleibt.

„Sollte mir wichtig sein, was der andere braucht, dann halte ich auch da aus, wo es mir nicht immer oder nicht auf Anhieb gefällt.“

Doch gleichzeitig bleibt die Herausforderung, Vielfalt nicht als Gegeneinander, als Konkurrenz oder gar Verletzungsgeschichte zu leben, sondern Jesus-gemäß, als versöhnte Vielfalt. Das würde dann bedeuten, dass sich eine Gemeinde nicht für ihr Wachstum rühmt, wenn dafür neben ihr andere Gemeinden ausbluten. Es bedeutet, die Formen der Anbetung zu würdigen, die andere für sich als richtig erkannt haben. Es bedeutet, um des gemeinsamen Zieles willen, zusammenzufinden und sich über die Hauptsache klar zu werden: dass nämlich noch viele Menschen mehr, Jesus entdecken und sich ihm anvertrauen. Gerade eine versöhnte Vielfalt wäre ein ausgezeichnetes Zeugnis vor einer Welt, in der man sich ängstlich voneinander abgrenzt. „Seht, wie haben sie einander so lieb.“ Das war das Markenzeichen der ersten Christen. Es steht uns heute immer noch gut an.

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