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Als der Abstand kam und der Anstand flöten ging

Leitartikel

Besondere Umstände bringen ans Licht, was sich sonst im Dunkel oder Grau des Alltags verbergen lässt. Die drei Säulen der Persönlichkeitsentwicklung können uns helfen, mit egoistischem Verhalten aufzuräumen und Verantwortung zu übernehmen, meint Detlef Eigenbrodt. Er ruft auf zur Selbsterkenntnis des eigenen Wesens, zur Selbstakzeptanz vorhandener Begabungen und Grenzen und schließlich zur Selbstveränderung des Denkens und Handelns.

Wie kam es nur, dass ausgerechnet Klopapier zum Synonym für rücksichtslos gelebten Egoismus wurde? Ja, gut. Nicht nur Klopapier. Da waren auch Mehl und Nudeln dabei, aber nichts prägte sich uns Menschen so gut ein wie das Klopapier. Menschen lieferten sich in Supermärkten hässliche Szenen – erinnern Sie sich? Das war zu Zeiten, als so viele wie wollten und ohne Mundschutz und Abstandsregeln im gleichen Geschäft einkaufen konnten. Mitte März dieses Jahres. Abstandsregeln gab es, wie gesagt, noch keine, und Anstandsregeln gab es offenbar immer weniger. Nur so kann ich mir erklären, dass da zwei Frauen vor einem bis auf eine Tüte leeren Nudelregal stehen. Fast leer ist es deshalb, weil die eine Dame alle Nudeln in ihren Wagen gepackt hat. Als nun die andere nach der letzten Tüte greift kommt die erste ihr zuvor und schnappt sich die auch noch. Als die Frau ohne Nudeln die Frau mit den ganz vielen Nudeln fragt, ob sie ihr nicht wenigstens eine Tüte lassen könnte, meinte die nur: „Da müssen Sie einfach demnächst etwas früher aufstehen und sich kümmern. Pech gehabt!“ Sprach’s und schob ihre Beute mit den Armen beschützend davon Richtung Klopapier, um dort erneut zuzuschlagen. Die Dame ohne Nudeln blieb fassungslos zurück und schaute ihr schockiert hinterher.

Warum spielt das Volk verrückt?

Nur um das richtig einzuordnen. Wir leben im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Nicht auf irgendeiner Südseeinsel zum Beispiel, die unter akuter Tsunamiwarnung steht. Wir sind in Deutschland – nicht in einem Kriegsgebiet. Gott sei´s gedankt! Obwohl – unter Umständen verhalten sich die Menschen in echter und lebensbedrohlicher Not nicht so unverfroren wie mancher Supermarktkunde hierzulande. Was ist passiert? Was ist los? Warum spielt das Volk verrückt? Die schnelle Antwort wäre, weil sie alle Egoisten sind. Was sag ich, wir alle! So schnell diese Antwort aber kommen mag, so falsch ist sie wohl auch, wenn wir sie vom Kontext isolieren. Die beiden Frauen – und das ist tatsächlich ein reales Beispiel – was wissen wir über sie? Kaum genug, um ein abschließendes Urteil zu sprechen. Wir nehmen nur den Moment wahr. Die eine hat alles, die andere hat nichts, geteilt wird nicht. Die Ursache könnte purer Egoismus sein. Auf beiden Seiten übrigens. Vielleicht war die Nudel-Frau tatsächlich sehr früh unterwegs, weil sie der Verantwortung für ihre Familie nachkommen wollte? Und vielleicht hat die Keine-Nudel-Frau an dem Morgen tatsächlich erst mal ausgeschlafen, dann ausgiebig geduscht und sich die Haare gemacht, bevor sie loskam – in der irrigen Annahme, dass sie ja noch nie zu spät gekommen ist und irgendwer ihr schon helfen wird, wenn es zum Schlimmsten kommt. Also wer hat sich denn dann egoistisch verhalten? Und wer verantwortlich? Und damit ist es ja leider auch noch nicht fertig. Denn diese Frage würde nur versuchen zu klären, wer recht hat. Die nach dem Anstand bleibt aber auf der Strecke. Denn wir sind uns ja vermutlich einig, dass es anständig wäre, wenn die, die den ganzen Wagen voll hat der, die gar nichts hat, etwas abgeben würde. Vor allem auch deshalb, weil dadurch ja kaum eigene Not begönne.

Schauen wir uns ein anderes Beispiel an. Die Reaktionen der Menschen auf die Vorgaben der Politik. In den ersten Wochen der Ausnahmesituation hatte man den Eindruck, es gäbe keine politische Opposition mehr, alle (ja, ich weiß, es sind nie alle …) folgten der Einschätzung der Regierung und deren Verordnungen. Warum? Na, vielleicht aus der Sorge um das eigene Wohlergehen und dem des Landes. Oder schlicht aus der Einsicht, selbst nicht besser zu wissen, was man tun sollte. Rettungsschirme wurden gespannt und viele waren froh. Ich weiß, auch hier fielen und fallen manche durchs Netz. In der Zeit, als niemand richtig wusste, was da mit dem Virus auf uns zukommt, war es genehm, einer Regierung zu folgen, die Verantwortung übernimmt und trägt. Dann, als deutlich wurde, dass die Pandemie zumindest in unserem Land nicht so schlimm grassiert wie befürchtet, wurden die Stimmen laut, warum Frau Merkel uns eigentlich vorschreiben will, wie wir uns zu verhalten haben. Die, der wir eben noch Verantwortungsbewusstsein für das Land attestierten, kriegt jetzt den geballten Egoismus entgegengeschleudert von Menschen, die auf Demos meinen sagen zu müssen: „Wir sind erwachsen, wir können selbst auf uns achten, wir brauchen keine Mutti!“ Da mag ich nur behutsam zurückfragen: „Ach, wenn ihr doch erwachsen seid, warum fangt ihr dann nicht an, euch auch so zu verhalten?“

Wie gut, dass sich da einer kümmert!

Da kommt ein Virus über die Welt und tatsächlich sind jetzt mal nicht nur die betroffen, die eh schon immer arm und arm dran sind, sondern jetzt sind es plötzlich alle. Selbst die Reichen sind gefährdet. Wir können nicht reisen. Wir können nicht ausgehen. Wir können nicht zum Gottesdienst. Wir können nicht ins Fitnessstudio. Und warum nicht? Weil jemand anders das gesagt hat. Weil die Regierung das verboten hat! Und hier liegt dann auch der Hund begraben. Wir fühlen uns in unserer Freiheit beschnitten und sagen nicht: „Wie gut, dass sich da einer kümmert“, sondern „Was fällt denen eigentlich ein?!“ Verzeihen Sie mir den etwas schlichten Vergleich, aber es kommt mir so vor, als würde eine Scheune lichterloh brennen und die drei kleinen Söhne des Bauern meinen, sie müssten nicht den Anweisungen der Feuerwehr folgen, die den Brand kontrolliert – also machen sie sich auf den Weg und versuchen, das Feuer auszupinkeln. Dafür, dass sie sich dabei an prominenter Stelle empfindlich verbrennen, ist natürlich die Feuerwehr verantwortlich, weil sie die Absperrung nicht gut genug im Griff hatte.

„Geht’s noch? Wie verrückt sind wir eigentlich? Warum haben wir Maß und Mitte verloren? Warum rennen wir so orientierungslos durch die Gegend und suchen nach unserem Glück? Ich meine wohl, es könnte sein, dass Orientierungslosigkeit und Gottlosigkeit eine Kausalität bilden.“

Wer aufgehört hat, nach soliden Werten zu fragen und zu leben, kann am Ende nichts anderes mehr sein als ein Egoist. Wer sich an keiner verbindlichen Norm mehr orientiert, kann nicht mehr Verantwortung tragen. Jedenfalls nicht die positive Form der Verantwortung. Denn verantwortlich sind wir alle allemal für das, was wir tun. Das gilt auch für Präsidenten, die Unsinn reden und den Tod vieler Menschen riskieren, weil sie in krankhaft narzisstischer Persönlichkeitsstörung keinen Verstand dafür haben, wie es geht, sich für das Wohl der anderen einzusetzen. Egoisten denken nur an den eigenen Vorteil. Wir finden diesen Typus Mensch neben der Politik auch in jedem anderen Milieu, in Kirche, Wirtschaft und Sport. Ich muss an ein Zitat von Frau Albright, einer ehemaligen US-Außenministerin, denken, die unlängst den Aufstand der Anständigen forderte.

Aber: sind nicht längst die Anständigen am Ruder? Haben wir nicht zum Beispiel gerade unzählige Initiativen, die dafür sorgen, dass Kassiererinnen, Postboten und Müllmänner, Krankenschwestern und Altenpfleger, Ärztinnen und welche Berufsgruppen auch sonst immer noch eine vernünftige Anerkennung ihrer Tätigkeiten bekommen? Ja. Haben wir. Ich frage mich nur, warum uns nicht früher aufgefallen ist, dass die sich oft für überschaubaren Lohn die Rücken fürs Gemeinwohl krumm arbeiten. Vermutlich schaffen wir es heute kaum noch zu ertragen, dass wir etwas nicht im Griff haben oder kontrollieren können und fliehen aktionistisch in die Gründung von Unternehmungen oder beteiligen uns bereitwillig an solchen. Weil wir das Stillsein nicht mehr ertragen. Weil wir nicht mehr aushalten können. Weil wir es hassen, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Also rennen wir panisch los – und sei es nur, um noch mehr Klopapier und Nudeln zu kaufen bei überarbeiteten und gestressten Verkäufern und Kassiererinnen, die ohne dieses raffgierige Konsumverhalten verwirrter Kunden und deren oft so unsolidarischem Verhalten gar nicht so überarbeitet und genervt wären.

Wie erwachsen sind wir wirklich?

Wenn jetzt die Politiker dabei sind, nicht nur über „Öffnungen“ zu reden, sondern sie auch Schritt für Schritt umzusetzen, wenn Virologen und andere Fachleute dabei sind, Zusammenhänge zu erklären und zur Behutsamkeit zu mahnen, dann könnte das im Grunde ja eine feine Sache sein. Wären da eben nicht die, die sinnvolle Regeln ignorieren, indem sie sie einfach für nicht sinnvoll erklären. Da wird Aggression geschürt, Wut und Hass auf ein System, das sicher nicht fehlerfrei ist, aber doch insgesamt weitaus mehr Verantwortung für die Gesellschaft zu tragen bereit ist als alle Demonstranten gegen das System zusammen. Ganz ehrlich, so ein Verhalten könnte man ja bei unreifen Kindern oder Teenagern eventuell entschuldigen, aber bei Erwachsenen?

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„Gott! Du bist mein Gott! Ich sehne mich nach dir, dich brauche ich! Wie eine dürre Steppe nach Regen lechzt, so dürste ich, o Gott, nach dir. Ich suche dich in deinem Heiligtum, um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen. Deine Liebe bedeutet mir mehr als mein Leben! Darum will ich dich loben; mein Leben lang werde ich dir danken und meine Hände im Gebet zu dir erheben. Ich juble dir zu und preise dich, ich bin glücklich und zufrieden wie bei einem festlichen Mahl. Wenn ich in meinem Bett liege, denke ich über dich nach, die ganze Nacht sind meine Gedanken bei dir. Denn du hast mir immer geholfen; unter deinem Schutz bin ich geborgen, darum kann ich vor Freude singen. Ich klammere mich an dich, und du hältst mich mit deiner starken Hand.“ Das hat David geschrieben, einer der frühen und erfolgreichen Könige des Volkes Israel, in Psalm 63. Er wusste, wie es sich anfühlt, Verantwortung zu tragen. Er wusste, welche Folgen sein Egoismus hat. Und er wusste, wie wenig er ohne die Nähe Gottes auskommen, wie kläglich er sich verirren und wie jämmerlich er klagen würde, wenn er sich nur auf sich selbst verließe. Sie und ich, wissen wir das auch?

Magazin Sommer 2020